Karosh Taha »Im Bauch der Königin«
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Keiner möchte gegen Younes kämpfen. Wenn er einen an der Schläfe trifft, schlägt er etwas aus dem Körper, man ist nur noch ein Schatten, der Körper ist taub für Berührungen, das Essen schmeckt salzig, man rennt ins Bad und übergibt sich, und die Angst vor Younes wächst. Auf Younes’ Rücken könnte man eine Weltkarte ausbreiten, und da wäre noch Platz für ein zweites Asien. Wenn ich direkt hinter ihm stehe, dann versperren mir seine Schultern die Sicht. Ich setze mich zu den anderen auf den Boden, in einer Reihe sitzen sie da und sehen Younes nicht an, sie betrachten ihn. Er weiß das alles nicht, vielleicht spürt er es, und das macht ihn einsam. Ich melde mich freiwillig, stehe auf, versuche, so groß wie möglich zu wirken. Der Mundschutz schmeckt sauer, weil ich vergessen habe, ihn zu waschen. Er ist zu groß für meinen Mund. Ich fühle mich ausgeliefert, weil er meine Lippen so nach außen kehrt, als hätte ich bereits Younes’ Faust im Mund. Nach einer Weile wird mein Kiefer schmerzen.

Walid ruft: »Jetzt hält er wenigstens die Fresse.«

Die anderen lachen, der tschechische Lehramtsstudent unterdrückt ein Grinsen. Seit einigen Monaten trainiert er unsere AG, und die Jungs mögen ihn, weil er früher Türsteher und Amateurboxer war, aber heute Muslim ist. Das behauptet er jedenfalls.

Er sagt: Die Tattoos an seinen Unterarmen seien seine Zeugen.

Er sagt: Fehler dürfe man nicht wegradieren.

Er sagt: Sie führten dir vor Augen, wer du hättest werden können.

Die Jungs nicken bedächtig, wenn der Lehramtsstudent uns Philosophie für die siebte Klasse auftischt. Er nervt mich mit seinem Getue, aber er ist breit, und wenn er sich aufrichtet, kriegt man Angst vor ihm. Younes denkt nicht an den Tschechen, sein Blick ist auf mich gerichtet, nicht streng, sondern dankbar, weil ich ihn davor gerettet habe, allein im Ring zu stehen. Wir kämpfen gegeneinander, Younes, nicht zusammen, will ich ihn erinnern. Wir sind nicht mehr in der fünften Klasse, als ich jedem in den Bauch boxte, der Younes beschimpft hatte. Das brauche ich nicht mehr, weil Younes zu einem Berg herangewachsen ist.

Younes’ halbes Gesicht verschwindet hinter der Deckung aus roten Handschuhen; trotz seiner Körpermasse ist er vorsichtig, hat früher zu viele Schläge kassiert. Die Angst ist in seinen Knochen mitgewachsen, deswegen ist jede Bewegung wohlüberlegt. Wenn er zuschlägt, schnellt er nach vorn, vernachlässigt nicht die Beinarbeit: Sein Körper bildet eine Einheit. Meine Schläge prasseln an seinen Handschuhen ab. Wenn ich Younes treffen will, muss ich mit dem Körper durch seine Deckung durch.

»Mach dich klein!«, ruft der Tscheche.

»Biete ihm keine Angriffsfläche!«, meint der Tscheche.

Younes hat sein ganzes Leben darum gekämpft, keine Angriffsfläche zu bieten, und irgendwie ist er immer daran gescheitert, weil wir alle den Weg kennen, Younes zu treffen. Aber der Tscheche meint natürlich mich.

Angriffsfläche – man muss das Wort nicht kennen, um zu wissen, was es bedeutet, so genau ist das Wort, wie eine gerade geschnittene Gartenhecke. Beim Boxen geht es ums Risiko, will ich zurückrufen, aber da knallt Younes’ Faust gegen meinen Kiefer, und ich bin dankbar, dass er Handschuhe trägt. Nach der ersten Runde meint der Tscheche, mir einen Ratschlag geben zu müssen, sagt, ich hätte zu viel Wut im Bauch, müsse mit einem kühlen Kopf an den Kampf rangehen, es gehe um Strategie, nicht um Straßenkampf.

»Sehr weise«, sage ich. Er ignoriert das und wendet sich Younes zu, lobt ihn. Younes jubelt innerlich, ich sehe, wie sehr er sich anstrengt, jegliche Freude in seinem Gesicht zu verbergen. Es soll niemand auf die Idee kommen, Younes würde sich so sehr nach dem Lob eines erwachsenen Mannes sehnen, dass er wie ein Hund mit dem Schwanz wedelt, weil sich jemand erbarmt, ihm über den Kopf zu streicheln. Younes ist an einen Punkt gelangt, an dem er sich gleichermaßen gegen Lob wie gegen Schläge wehrt. Keiner soll denken, Younes sei irgendwie vernachlässigt worden, Younes sei auf der Suche nach Bestätigung. Younes steht da wie ein Denkmal. Ich will mich umdrehen und die Jungs auffordern, für die Nachwelt ein Foto von ihm zu machen.

In der zweiten Runde bin ich vorsichtiger, halte Abstand, und der Berg kommt auf mich zu. Ich zwinge mich, nicht wegzulaufen. Und die Jungs hätten was zu lachen, wenn ich wegliefe. Davon würden sie definitiv ein Foto für die Nachwelt schießen. In dem Moment, als würden meine Gedanken vor Younes ausgebreitet, schlägt er mit voller Absicht daneben. Sein Handschuh streift mein linkes Ohr, die Reibung brennt nach. Mit der Schlaghand trifft Younes all seine Ziele, das weiß ich. Zwei Sekunden lang schaut er mir in die Augen, sagt mir, er wisse, was ich gedacht habe, kenne meine Gedankenkette, würde mir niemals wehtun, ich sei sein einzig wahrer Freund, sagt er mir in diesen zwei Sekunden, sagt, ich zähle auf dich, sagt noch viel mehr in diesen zwei Sekunden und bietet mir zwei weitere Sekunden ohne Deckung, ein Fehler, damit ich ihn schlagen kann, damit ich als Sieger dastehe, der Younes getroffen hat. Den Gefallen tue ich ihm nicht, sich gut zu fühlen, weil er mich wie ein Kind gewinnen lässt. Wer zwei Asien auf dem Rücken tragen kann, den besiegt man nicht, den berührt man höchstens, so leicht wie die Kaaba. Selbst ein erfolgreicher Schlag ist unglaubwürdig, die Jungs würden denken, Younes habe ihn mir aus reiner Freundschaft gewährt. Die einzig ehrbare Möglichkeit, aus dem Ring zu steigen, ist, in die Defensive zu gehen. Ein langweiliger Kampf, nichts für die Nachwelt, nur für einen Donnerstagnachmittag. Der Tscheche fordert uns auf, einander nach dem Kampf die Hand zu geben, als sorge er für den Frieden in der Welt. Ich biete Younes ein High-five, weil Händeschütteln was für Menschen ist, die sich aus Zwang respektieren.

Der Tscheche will den Kampf analysieren, fragt die Jungs, ob Younes und ich Fehler gemacht hätten, auf die wir beim nächsten Mal achten könnten. Die Jungs starren uns nur mit ihren Fischaugen an, öffnen ihre Münder, aber es kommt nur Luft raus. Walid meint dann doch: »Raffiq muss noch bisschen wachsen.«

Die Jungs lachen, und der Tscheche unterdrückt wieder sein scheiß Grinsen, als würde er mich nicht beleidigen wollen, und weiß nicht, dass er mich damit tatsächlich beleidigt.

»Ab und zu hast du deine Deckung vernachlässigt, Younes«, sagt er.

Während des freien Trainings dürfen wir mit einem Sparringspartner üben. Wir schwärmen in der Halle aus, aber einige Türken versammeln sich um den Tschechen, freuen sich einen ab, dass ein Christ jetzt Muslim ist, als würde das den Islam aufwerten. Sie hören ihm zu, wenn er Hadithe zitiert, um seine Ansichten zu rechtfertigen. Younes und ich versuchen, uns nicht von seiner Konvertierung beeindrucken zu lassen, halten uns von ihm fern. Aber heute will ich ihm das Leben schwer machen, deswegen nähere ich mich der Gruppe und höre den Tschechen über Frauen labern. Wie er schon anfängt: »Unser Prophet Muhammad –«

»Dein Prophet ist Jesus, Mann!«, rufe ich ihm zu. Die Türken schauen mich genervt an, Younes lacht, und der Tscheche fährt fort: »Unser Prophet Muhammad, s.allalla¯hu ’alayhi wa sallam, hat gesagt, dass das Paradies unter den Füßen der Mütter liegt und deswegen –«

»Was ist, wenn die Mutter eine Hure ist?«, fragt Younes, und weil der Berg selten spricht, schaut ihn niemand genervt an. Hätte ein anderer die Frage gestellt, würden sich alle auf ihn stürzen, ihn unter Lachen und Grölen begraben, aber wie gesagt, Younes ist Younes, wer traut sich, genervt zu stöhnen? Ich genieße die Anspannung, die in der Luft liegt, und die Passivität, in die Younes alle gezwungen hat. Gleich explodiert der Kopf des Tschechen. Aber er löst sich als Erster aus der Starre und fragt: »Wie bitte?« Seine Augen verlieren an Blau.

»Was sagt der Prophet dazu, wie man eine Mutter behandeln sollte, die eine Hure ist?«

»Es ist ziemlich respektlos, so über eine Mutter zu sprechen, Younes.«

»Wenn es so ist.« Younes besteht darauf, dass es Mütter gibt, die Huren sind. Die anderen Jungen erwarten vom Tschechen eine Antwort.

»Trotzdem ist es respektlos.«

»Du hast keine Ahnung, oder? Außerdem will ich wissen, was der Prophet gesagt hat, nicht irgendein Türsteher.«

Der Tscheche, der früher Türsteher und Boxer war und immer noch Boxer ist, aber jetzt Muslim, hat viel Geduld mit Younes. Seine Brust hebt sich, als er zu einer Antwort ansetzt und anfängt, von früher zu erzählen, von einem Typen auf dem Sterbebett: Das ganze Dorf versammelte sich um den Mann, der zitterte und schwitzte, der Schmerzen hatte; selbst der Arzt wusste nicht, was zu tun ist. Die Leute waren ratlos, weil dieser Sterbende ein frommer Muslim war, er hatte weder gelogen noch betrogen oder unzüchtiges Verhalten gezeigt, warum ließ Allah ihn leiden? Seine Frau und Kinder weinten um ihn und beteten, dass er endlich seinen Frieden finden solle. Da betrat der Sheikh das Zimmer, und als er den Sterbenden sah, wusste er sofort um seine Leiden. Er befahl ein paar Dorfjungen, die Mutter zu benachrichtigen, denn nur seine Mutter könne ihn aus diesen elenden Schmerzen befreien, indem sie dem Sohn die Verirrungen verzeihe. Als die Mutter ihren Sohn entschuldigte, starb er friedlich in seinem Bett.

Der Gong ertönt wie ein Zeichen Gottes für die Wahrheit in dieser Geschichte. Younes löst sich als Erster aus der Erstarrung, und wir folgen ihm in die Sportkabine. Younes packt ruhig seinen Rucksack, die Jungs reden mittlerweile über die Vor-Abi-Klausuren, aber Younes ist in einer anderen Welt, und sein Schweigen zwingt mich, mit ihm abzutauchen.

Wir wohnen in der gleichen Straße, deswegen gehen wir immer zusammen nach Hause, war früher so, und das wird auch so bleiben. Younes hasst das Viertel, weil er immer mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern durch die Straßen läuft. Egal, wie groß und breit er sich trainiert, ein flüchtiger Blick oder ein vielsagendes Grinsen drücken ihn zu Boden. Younes raucht, damit er nicht reden muss. Ich laufe neben ihm her und fühle, wie er seine Last mit mir teilt. Ich will ihm sagen, dass jeder es im Leben schwer hat, aber ich würde dann wie der Tscheche klingen und schweige lieber. Ein Tscheche, der mir und Younes den Islam beibringen will, der sein Wissen aus irgendwelchen gebrauchten Büchern bezieht, die er online für fünf Euro erstanden hat. Der Tscheche kennt Younes nicht, er kennt Shahira nicht, die angeblich Younes’ Frieden in ihrer Hand hält. Und weil die gleichen Gedanken Younes verfolgen, zündet er sich eine weitere Zigarette an, scheißt darauf, dass ihm die Lungen beim nächsten Training wehtun werden. Er zieht mit aller Kraft an der Kippe. Vor dem Hauseingang verabschieden wir uns. Ich schaue Younes nach, schaue diesem Riesen mit gebrochenem Rücken nach, bis er im Haus verschwunden ist. Er tut mir wieder ein bisschen leid. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Younes gequält wird, weil das Einverständnis zum Sterben in den Händen seiner Nuttenmutter liegt. Der Tscheche redet zu viel, er kennt Younes nicht, er weiß nicht, was früher passiert ist, deswegen weiß er auch nicht, was jetzt passiert, wer Younes ist, wer seine Mutter ist. Der Tscheche kann nur labern und aus alten Büchern zitieren, was er tun sollte oder was andere Leute tun sollten. Ich muss zu Herrn Schandt gehen und ihm vom Tschechen erzählen, der Younes nicht kennt und auch nicht seine Mutter und vom Islam erzählt, als wäre der Islam eine Salbe, die jede Entzündung lindert.

Das Nervige an Jamals Frau ist nicht nur, dass sie Jamals Frau ist, sondern dass ihre Mimik und Gestik wie eine Zweitstimme ihr Reden begleiten. Es gibt nicht viel an meiner Mutter zu bewundern, aber mit welcher Aufmerksamkeit sie Jamals Frau zuhört, verlangt einem dann doch Respekt ab. Jamals Sohn sitzt neben seiner Mutter, er kann nicht älter als acht sein, aber sein Blick mit den trägen Lidern strahlt so eine Altersweisheit aus. Ich könnte meine Hand dafür ins Feuer legen, dass der Junge gerade keinen einzigen Gedanken denkt. In seinem Alter dachte ich darüber nach, wie ich langweiligen Situationen entfliehen kann, aber er hier scheint sie herbeizusehnen, weil er über irdische Freuden erhaben ist; er verdient wirklich einen Klatscher. Mit welcher Gleichgültigkeit er da sitzt, als könnte er genauso gut woanders sein, und wie er den Orangensaft aus dem Glas trinkt, nicht schlürft, er ist zu weise, um Geräusche beim Trinken zu machen, so ganz anders als seine Mutter. Die Augen hat er von seinem Vater, der die Gleichgültigkeit wie einen Rucksack mit sich trägt. Meine Mutter fragt Jamals Sohn, ob er nicht zu Newroz, meiner Schwester, ins Zimmer gehen möchte. Sie sind in der gleichen Klasse, das ist auch so ziemlich ihre einzige Gemeinsamkeit.

Als Jamals Frau anfängt, über Younes’ Mutter zu reden, höre ich ihr dann doch zu. Sie erzählt, sie habe gesehen, wie diese dêhlik, diese Hündin, im Gemüseladen die Hand des Kassierers Ramsy länger berührte, als sie musste. Sie drückte ihm die Münzen einzeln in die Hand, bei jeder Münze sei das Kichern der beiden lauter geworden, und bei der letzten Münze habe Ramsy, der Kassierer, nach den Fingern von dieser dêhlik gegriffen, die sie ihm spielerisch entzog. Dabei seien all die Münzen auf den Boden gefallen, die Kunden im Laden hätten nicht mehr verstohlen geschaut, sondern alle hätten sie angestarrt und gewusst. Ramsy habe mit hochrotem Kopf und einem dämlichen Grinsen die Münzen aufgehoben, die Hündin den Laden mit einem Schwung ihres dicken Hinterns verlassen. In jedem Satz steckt nicht nur Hohn für Younes’ Mutter, sondern auch Übertreibung, als würde die Wahrheit nicht ausreichen, um sie zu verachten. Jamals Frau nimmt den Namen Shahira nicht in den Mund. Ich weiß nicht, wie er aus ihrem Mund klingen und welche Mimik sie dabei machen würde. Wahrscheinlich bleibt der Name in ihrem schiefen Hals stecken, deswegen vermeidet sie seine Erwähnung.

Shahira breitet sich bei mir im Mund aus wie Öl. Wenn ich von ihr als Shahira denke, muss ich mich zusammenreißen. Nur wenn ich von ihr als Younes’ Mutter denke, kann ich über sie reden.

Und ich hasse Younes’ Mutter noch ein bisschen mehr, obwohl ich jedes Mal denke, noch mehr könnte ich die Frau nicht hassen. Aber ich tue es. Ich tue es schon seit der Grundschule, seit ich Younes das erste Mal gesehen habe und er sich hinter seiner Mutter versteckte und sich am liebsten an ihrem Rockzipfel festgehalten hätte, wenn der Rock nicht so kurz und eng gewesen wäre. Deswegen verschwand Younes hinter ihren Beinen, hielt sich mit einer Hand an einem Oberschenkel fest, hinter dem Melonenarsch versteckte er sein Gesicht. Sie kreischte: »Younes, nimm deine Hand da weg, du zerreißt mir noch die Strumpfhose.« Sie lieferte ihn am Eingang der Schule ab, winkte kurz der Lehrerin zu und stöckelte davon. Younes schaute ihr nach und blieb stumm am Eingang stehen; die anderen rempelten ihn an, und ich ärgerte mich, weil er nicht vom Eingang wegging. Er musste doch merken, dass er im Weg stand, oder war er blöd? Auch in der Klasse musste Frau Blinder ihn jeden Morgen darauf hinweisen, er solle sich doch bitte schön hinsetzen. Wenn es eine neue Sitzordnung gab, wählte Younes immer den Platz am Ausgang.

Als ich Younes verprügelte, stand am Nachmittag seine Mutter vor unserer Tür. Meine Mutter bat sie nicht rein und fragte nur, was denn los sei.

»Dein Sohn hat meinen Younes verprügelt.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Mutter. »Raffiq, komm mal her.«

Es fühlte sich an, als hätte ich das Gehen verlernt, so langsam lief ich zur Tür. Younes’ Mutter keifte sofort los, als sie mich sah. Wie eine Kobra streckte sie den Hals, beugte sich vor und schrie: »Warum hast du Younes verprügelt?« Sie zog sein T-Shirt über den Rücken, wo ein blauroter Fleck prangte.

»Was ist das nur für ein Verhalten? Du bist doch kein Tier!« Sie wedelte mit dem Zeigefinger vor Mutters Gesicht. »Wenn dein Sohn noch einmal meinen Younes anfasst, dann Gnade ihm Gott.«

»Du solltest den Mund nicht so vollnehmen, Mädchen«, sagte meine Mutter, dabei war Younes’ Mutter alles andere als ein Mädchen.

»Dein Sohn hat dieses Verhalten von dir und deinem Mann gelernt. Ein Verhalten wie vom Tier, wie die Tiere!«, schrie sie weiter.

Beide Frauen schrien sich die Hälse wund, und wir schauten sie nur an. Die Nachbarn guckten raus, schlossen schnell wieder ab und lauschten hinter den Wohnungstüren weiter. Als Younes’ Mutter davonstöckelte, blieb niemand anderes zum Anschreien da, weshalb Mutter sich mir zuwandte und mich mit kalter Hand ohrfeigte.

»Schäm dich!«, sagte sie, schickte mich aufs Zimmer und drohte mir noch mit Vaters Prügel. Aber er schlug mich nicht, kam nur in mein Zimmer, und ich wimmerte schon.

»Warum hast du den Jungen geschlagen?«

Weil er immer an der Tür stehen blieb. Weil er auf keine Frage antwortete. Weil er immer traurig war und nie Ball spielen wollte. Ich weiß es nicht, sagte ich meinem Vater. Er setzte sich auf die Bettkante und erzählte mir von Younes’ Familie, und ich verstand nicht, was das mit mir zu tun hatte. Vater beendete seine Erzählung mit der Aufforderung, ich solle den Jungen nie wieder anrühren. Aber das war nicht der Grund, warum ich Younes nicht mehr verprügelte.

In der vierten Klasse organisierte Frau Blinder ein gemeinsames Frühstück mit den Eltern, kurz vor den Weihnachtsferien. Manche Eltern backten Plätzchen, andere brachten Brötchen, Käse, Marmelade mit. Es gab Kakao für die Kinder und viel Kaffee für die Almans, für unsere Eltern sogar Chai, und wir saßen gemeinsam an unseren Gruppentischen und aßen mit den Eltern.

Irgendwann rief ein Mädchen so laut in die Klasse, dass alle erstarrten: »Frau Blinder, der Younes weint.«

Und dann waren alle Augen auf Younes gerichtet, der mit einer deutschen Familie an einem Tisch saß, ein Brötchen lag unberührt in seinem Schoß. Younes winselte in seine Hände. Frau Blinder kniete sich hin, strich ihm immer wieder über den dünnen Rücken und sagte, dass alles gut werde. Die anderen Eltern fragten nur, was denn los sei, wieso der Junge denn heule. Meine Mutter schaute Vater an und sagte auf Kurdisch: »Was hat diese Frau ihrer Familie nur angetan.«

Und eine türkische Mutter tuschelte zu einer polnischen: »Seine Mutter ist nicht gekommen.«

Von da an ließ ich Younes in Ruhe.

Meine Eltern kamen zu allen Elternsprechtagen und Elternabenden, manchmal schickte meine Mutter Vater vor, weil sie im Gespräch zu sehr darüber nachdachte, was sie wie sagen wollte, sodass sie nur halb zuhörte. Mein Vater fragte sie dann, was die Lehrerin gesagt habe, und sie sagte, sie habe es vergessen, und rührte schnell im Topf oder holte den Staubsauger. Irgendwann begriff mein Vater, dass sie nicht vergessen hatte, sondern gar nicht zuhörte. Aber Jamals Frau kann sie gut zuhören und wartet auf eine Gesprächspause, damit sie in die Küche kommen und ihre Soße umrühren kann. Sie räumt meinen Teller ab, einfach so. Amal würde sich jetzt in ihrer Meinung bestätigt fühlen, dass man mir ständig hinterherräumt und ich deswegen niemals ein selbstständiger Mann werde. Aber Amal glaubt auch, das menschliche Verhalten sei eine Rechenaufgabe – dieses Verhalten des Vaters plus jenes Verhalten der Mutter multipliziert mit den Erwartungen der Gesellschaft ergibt die Eigenschaft des Kindes. Und weil wir seit ein paar Monaten so etwas wie Freund und Freundin sind, glaubt sie, mir die Welt erklären zu können, und ich gebe vor, nicht interessiert zu sein, auch wenn sie viel schlauer ist als ich, aber das weiß sie nicht.

Meine Mutter rührt in ihrer Soße und dann leckt sie den Löffel ab, bevor sie ihn in die Spüle legt. Ich ekle mich und will ihr sagen, ob sie das nicht mal sein lassen könne. Aber ich halte mich zurück, weil sie mir sonst meine ganze Erziehung vorhalten wird: Ach, meinst du, es war nicht eklig, als ich mitten in der Nacht deinen Hintern von Scheiße sauber wischte oder wenn du mir Milch auf die Brust gekotzt hast. Mutter schaut mich an, fragt, was los sei, und widmet sich gleichzeitig dem Essen; sie glaubt, mit ihrer Frage in mir rühren zu können, aber das kann sie nicht, dafür müsste sie mich länger anschauen, mir mindestens so viel Aufmerksamkeit schenken wie Jamals Frau. Ich stehe auf und verlasse die Wohnung.

(Ausschnitt aus: Karosh Taha: Im Bauch der Königin. Dumont (2020).


Und immer fragten sie mich, wie ich es angestellt hatte, den neuen Jungen, der wesentlich größer und stärker war, zu verprügeln, und ich erzählte, weil mir jeder zuhörte und mich glauben ließ, etwas Bedeutendes vollbracht zu haben, und ich erzählte, weil die Männer sich freuten und die Frauen sich ärgerten, weil mein Vater mich auf den Schoß nahm und mich aufforderte, die Geschichte seinen Männerfreunden zu erzählen, als wäre sie eine seiner Anekdoten, als wäre ich seine Handpuppe. Aber es ist meine Geschichte, hätte ich beinahe gesagt, hätte mich beinahe umgedreht zu meinem Vater und ihm gesagt, das ist meine Geschichte. Ich war noch jung genug, Männerrunden zum Lachen zu bringen, aber zu alt, um auf jemandes Schoß zu sitzen, auch wenn er mein Vater war und auch wenn er mich einlud, auf seinem Schoß zu sitzen, weil sie immer fragten, wie ich es angestellt hatte, den neuen Jungen, der wesentlich größer und stärker war, zu verprügeln. Und ich erzählte, manchmal fiel mir ein neues Detail ein, und ich erfand neue Details, weil ich wollte, dass sie mir zuhören, irgendwann sagten auch die Männer: Ihr müsst auf sie achtgeben, und da hörte mein Vater auf, mich wie eine Handpuppe auf seinen Schoß zu setzen, und auch weil meine Mutter ihn abends dafür ausschimpfte. Jede Nacht schrien sie sich an, und Mutter schloss alle Fenster und die Balkontür, und die Hitze beschlug die Fenster, die Hitze rann an den Scheiben hinab, die weinten, weil es sonst niemand tat. Mein Vater öffnete nach dem Streit die Fenster, und die Wohnung konnte wieder atmen, und ich konnte schlafen, um am nächsten Tag den älteren Jungen im Viertel zu erzählen, wie ich den neuen Jungen verprügelt hatte, weil sie mich danach gefragt hatten, einer hielt noch seinen Fußball unter dem Arm, sie unterbrachen ihr Spiel, nur um zu hören, wie ich davon erzählte, den neuen Jungen verprügelt zu haben. Und einer von den Jungen fragte mich, ob ich ihm meinen Bizeps zeigen könne, und ich wusste nicht, was das ist, da schob er den kurzen Ärmel seines Shirts ein wenig hoch und beugte den Arm, strengte sich an, eine Kugel auf dem Arm zu bilden, und ich machte es ihm nach und brachte damit alle zum Lachen, und ein anderer fragte, ob ich ihm meinen Schwanz zeigen könne, und da lachten wieder alle und widmeten sich ihrem Spiel.

Ich erzählte es auch den Lehrerinnen, die danach fragten, und weil sie bestürzt schauten, verkürzte ich die Geschichte, sparte mit Details, vor allem den erfundenen, und sie sagten dann, ich solle keine Freude bei dem Gedanken an diese Tat empfinden. Und ich empfand keine Freude, nur das Gefühl, etwas Bedeutendes vollbracht zu haben. Meine Mutter verbot mir, die Geschichte zu erzählen, aber ich konnte nicht aufhören, weil alle mich danach fragten. Sie war nur verärgert, weil die Mutter des Jungen an einem Nachmittag vor unserer Wohnungstür gestanden und uns ausgeschimpft hatte, Mutter vorwarf, mich nicht unter Kontrolle zu haben: Ein Mädchen, das Jungen verprügle, könne nicht normal sein, ich sei verzogen, und Mutter sei daran schuld, das sagte sie alles. Wie die Tiere, sagte sie und wiederholte den Satz, bis ich das glaubte, und ich wollte ihren Sohn wieder anspringen, der mit gesenktem Kopf neben ihr stand, und dann beugte sich die Mutter zu mir, als hätte sie meinen Gedanken gehört, und drohte, mir die Augen herauszureißen, sollte ich noch einmal ihren Sohn anfassen. Mutter schützte mich mit ihrem Arm vor der anderen Mutter und versuchte, sie mit einer eigenen Drohung zu übertönen, trotzdem hatte ich sie gehört, hatte aber keine Angst und wollte gegen ihr Schienbein treten, da knallte meine Mutter die Wohnungstür zu, als spürte sie die Bewegung in mir, und Mutter drohte mir das Gleiche an wie die fremde Mutter und beendete die Szene mit einer Ohrfeige und der Aufforderung, mich zu schämen. Am Abend schrie sie meinen Vater an, er brüllte zurück und sagte ihr, wenn sie nicht den Mund halte, würde er uns nach Kurdistan zurückbringen, und meine Mutter ließ sich nicht davon beeindrucken und schlug vor, seinen Koffer zu packen, aber Vater ignorierte sie, rauchte seine Zigarette zu Ende, während die Fenster weinten.

Meine Eltern wurden zur Direktorin gerufen, und weil Vater arbeitete, kam Mutter allein zur Schule und hörte sich an, was die Direktorin ihr erzählte. Sie sagte, man würde Maßnahmen ergreifen, im jungen Alter muss man da schon hart durchgreifen, Frau Zaynal, da müssen Sie konsequent bleiben, sagte die Direktorin, probierte viele Sätze aus, um Mutters harte Mimik aufzubrechen, und dann sagte die Direktorin, Sie müssen mit Ihrem Mann an einem Strang ziehen, und in diesem Moment schützte Mutter das Gesicht, das sich entblößte, das uns beschämte, schützte das nackte Gesicht mit beiden Händen: Sie weinte und atmete in kurzen Zügen, weinte, wie sonst Grundschulmädchen weinen, und meine Mutter bat nur um Entschuldigung, sagte, sie habe mich nicht so erzogen, ich würde ja ständig mit Jungen toben, da hätte ich ihr Verhalten angenommen, das müsse doch irgendwie abfärben, und Mutter war wie die anderen Mädchen, die mich bei den Lehrerinnen verpetzten, den Zeigefinger ausgestreckt in meine Richtung und die Augen flehend. Das Gesicht der Direktorin entspannte sich: erleichtert zu sehen, wie Mutter weinte, und die Direktorin stimmte ihr unbedingt zu, unbedingt, sagte sie, und Mutter hörte nicht auf zu weinen, und die Direktorin sorgte dafür, dass sie nicht aufhörte, und sagte, Amal ist wie ein Bursche, völlig außer Kontrolle, und nickte begeistert und sagte, sie habe mich schon länger beobachtet, sie sei froh, dass dieses Verhalten auch meiner Mutter aufgefallen sei, und dann lehnte sie sich zu meiner Mutter vor, die Tischkante schnitt ihr in den Bauch, aber das war der Direktorin egal, und sie sagte, ich sei wie Mogli, der mit den Wölfen aufgewachsen ist, und da heulte meine Mutter heftiger, nannte mich ein Mogli-Mädchen, während sie heulend in das Taschentuch rotzte, das ihr die Direktorin angeboten hatte, um ihr zu bedeuten, dass nicht sie bestraft werde, sondern die Tochter, das Mogli-Mädchen. Es würde ihr guttun, wenn sie mehr Freundinnen hätte, sagte die Direktorin, eine Resozialisierung sozusagen, sagte sie und war sich unsicher, ob meine Mutter sie verstand, und zum ersten Mal schaute die Direktorin mich an, fragte, Amal, hast du Freundinnen und wie viele überhaupt. Ich schwieg.

Amal, das muss dir nicht peinlich sein, sagte sie und wollte mich zum Weinen bringen, wie sie meine Mutter zum Weinen gebracht hatte. Kein Mädchen wollte mit mir befreundet sein, das wusste die Direktorin, weil ich jedes schon mindestens einmal in seinem Leben geärgert hatte, wie es sonst die Jungen taten, und sie erzählten es jedem in der Schule, erzählten einander so gerne, wie sie von mir geärgert worden waren, erzählten, wie sie gelitten hatten, wie ihnen wehgetan worden war. Wenn ich ein Mädchen schubste, dann hatte ich alle geschubst, weil sie es einander sofort erzählten und weil sie einander zuhörten und die Geschichte so weitererzählten, als wäre jede Einzelne betroffen. Und an dem Abend schrien meine Eltern sich wieder an, weil meine Mutter die Demütigung, die sie bei der Direktorin erlitten hatte, so sagte sie es, an meinen Vater weitergab, und wie sehr es sie beschäme, dass er nicht da gewesen sei, als würde er sich nicht für seine Tochter interessieren. Und sie betonte, wie sehr ich doch seine Tochter sei, deine Tochter hat das getan, deine Tochter hat das nicht getan, als wäre ich aus dem Nabel meines Vaters gekrochen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sie aufzufordern, endlich mal das Maul zu halten, und da wurde Mutter noch wütender und schwieg meinen Vater für Wochen an, und weil ich der Grund ihres Streits war, schwieg sie auch mich an. Die ersten Tage genossen mein Vater und ich ihr Schweigen, weil wir in Ruhe essen konnten, Karten spielen, in Ruhe faul sein, alles in Ruhe. Dann wurde es schwierig, weil mein Vater sein Feuerzeug nicht fand und Mutter schwieg oder ich den Bastelkleber und Mutter schwieg, und bald wurde ihr Schweigen so mächtig, dass auch wir schwiegen, dass die Fenster aufhörten zu weinen. Aber mein Vater, der so gern Geschichten erzählte, der gern lachte, entschuldigte sich schließlich bei meiner Mutter, und er musste es gut angestellt haben, weil meine Mutter doch stur ist, weil sie einen Zementblock im Kopf hat. Die Nachbarin fragte sie, wie er das angestellt habe, weil die Nachbarin auch wusste, wie stur meine Mutter sein konnte, und meine Mutter lächelte und schlürfte ihren Chai, schlürfte und hörte nicht mehr auf zu schlürfen, als wäre ihr Chai-Gläschen bodenlos. Nachdem sie den Chai in einem Schluck ausgetrunken hatte, strich sie sich den Schweißbart von der Oberlippe, weil Mutter dort schwitzt, wenn ihr heiß ist, und dann erzählte sie, er habe mit seiner süßesten Zunge gesprochen. Die Nachbarin lachte laut und sagte, ich wette, er hat mit seiner Zunge nicht nur gesprochen, und da stand Mutter unruhig auf und goss sich einen weiteren Chai ein.

Mit Worten konnte ich Mutter nicht versöhnlich stimmen. Mein Vater sprach immer für uns beide, und diesmal hatte er nur für sich gesprochen, und ich fing an, mein Bett herzurichten, meine Klamotten unaufgefordert in den Wäschekorb zu werfen oder meinen Teller abzuräumen, und Mutter schwieg weiter, und irgendwann bot ich ihr an, mein Haar kämmen zu dürfen, ohne Worte, weil ich doch ein Mogli-Mädchen war. Ich ging zu Mutter und reichte ihr ein Haargummi und einen Kamm, damit sie mein Haar, das sie schon immer geärgert hatte, bändigen konnte. Ich setzte mich ihr zu Füßen, und sie konnte auf der Couch mit der Arbeit anfangen. Meine Frisur war danach ordentlich, selbst die Direktorin bemerkte es, und meine Sportlehrerin meinte, ich solle den Zopf nicht so streng binden, sonst bekäme ich Kopfschmerzen, aber selbst dann sprach Mutter nur das Nötigste mit mir. Und wenn die Jungen Fußball spielten und mich nicht mitspielen ließen und mich Rapunzel nannten, dachte ich nur daran, wie sehr es in meinen Schläfen wehtat, der Schmerz erinnerte mich an Mutter, und so tat ich nichts, und so schubste ich keinen Jungen, der mir zu nah kam, und so beschimpfte ich kein Mädchen, das mich auf leise Art beleidigt hatte, und so widersprach ich keiner Lehrerin, die mich mit fremden Wörtern verwirrte. Der Schmerz war da, und ich konnte ihm nicht entfliehen, weil er direkt auf meinem Kopf saß, und dann hielt ich es im Sachunterricht nicht mehr aus und holte mir die Lehrerschere, als die Lehrerin einmal nicht schaute, und schnitt den Zopf ab. Die anderen Schüler schrien, und die Lehrerin wurde auf mich aufmerksam, sie rannte mit Angst im Gesicht auf mich zu und nahm mir die Schere weg, und erst dann wurde sie wütend: Sie vergaß all ihre feinen, fremden Wörter und schrie mit verständlichen. Einige Schüler lachten, andere waren bestürzt, und es war egal, weil der Schmerz seine Krallen aus meiner Kopfhaut zog, er löste sich auf, und das fühlte sich gut an, wie ein Duschstrahl mitten auf dem Kopf, und ich genoss, wie der Schmerz sich in einen Duschstrahl verwandelt hatte, und dann fragten mich alle, warum ich meine Haare mitten im Unterricht abgeschnitten hatte, und sie lachten, wenn ich sagte, der Zopf habe wehgetan, aber danach habe er sich in einen Wasserstrahl verwandelt.

Vater brachte mich zum Friseur, damit er den Rest abschnitt, und auch der Friseur fragte, warum ich meine Haare denn so kurz geschnitten hätte, und er lachte nicht, als ich sagte, der Zopf habe wehgetan, und sagte nur, ich müsse meine Mutter bitten, die Haare nicht zu fest zu binden, und dem Friseur konnte ich nicht erzählen, dass ich nicht wusste, wie ich mit meiner Mutter reden konnte. Meine Mutter weinte, als sie mich mit kurzen Haaren sah, und sprach zu meinem Vater, ganz ruhig, wie es nicht ihre Art war, dass er mich verdorben habe, dass ich nun endgültig verloren sei. Er nahm sie nicht ernst, sooft wie er mir über den Kopf strich, von der Stirn bis zum Nacken, und dort ruhte dann seine Hand.

Mit seiner Hand an meinem Nacken begleitete er mich manchmal von der Schule nach Hause. Wenn er früher von der Arbeit kam, stand er vor dem Schultor und wartete auf mich, und wenn ich gerade aus dem Gebäude rannte mit all den anderen Schülern und er sah, dass mich einer der älteren Jungen schubste, sagte er mir, ich solle zurückschubsen, ich dürfe mir nichts gefallen lassen, gerade als Mädchen dürfe ich mir nichts gefallen lassen, sie dürften nicht wagen, sich mir zu nähern, und wenn meine Muskeln nicht ausreichten, müsse ich beißen, alle Mittel seien recht, wenn man sich verteidige. Einmal wartete Vater mit der Mutter von dem neuen Jungen, und sie rauchten gemeinsam, und Vater bemerkte mich nicht, bis ich vor ihm stand, und die Frau schaute mich an, sie lächelte, wollte mir nicht mehr die Augen ausreißen. Und dann kam auch ihr Sohn, der Younes hieß, und mein Vater sagte, das sei ein schöner Name, aber der Junge bedankte sich nicht, er war nur traurig, und seine Mutter sagte, Younes sei ein schüchterner Junge, und ich dachte, er sei ein Feigling, aber ich sagte das nicht der Frau, weil sie mir nicht mehr die Augen ausreißen wollte. Younes und seine Mutter wohnten ein Haus weiter und schienen freundliche Menschen zu sein, sagte mein Vater, also sollte ich ihn in Ruhe lassen.

An dem Abend schimpfte Mutter mit Vater; nachdem sie die Fenster und die Balkontür geschlossen hatte, schrie sie ihn an, weil eine Nachbarin ihr erzählt hatte, wie Vater mit der Nachbarin, die enge und kurze Röcke trug, nach Hause gelaufen sei, und sie hätten wohl sehr erregt miteinander gesprochen, weil Vater die Nachbarin nicht grüßte, die gerade an ihnen vorbeilief, und er sei ganz vertieft gewesen ins Gespräch mit der anderen Nachbarin, die immer enge und kurze Röcke trägt, als wollte sie Mutter persönlich beleidigen. Sie fühlte sich entehrt, dass Vater mit dieser läufigen Hündin redete, wie sie es sagte, und fragte, ob er sich denn nicht schäme, mit einer Frau zu reden, deren Rock alles von ihr preisgebe, und was jetzt die Nachbarn wohl von ihnen dächten, von meinem Vater und von meiner Mutter und wahrscheinlich von meinem Vater mit der neuen Nachbarin, und Vater rauchte nur seine Zigarette und öffnete das Fenster, als wollte er die lästernde Nachbarin an dem Streit teilhaben lassen, die ihn verursacht hatte. Aber da hielt Mutter auch schon ihren Mund und schwieg, was ganz angenehm war, und Vater kam in mein Zimmer und versprach, mir das Autofahren beizubringen, damit ich irgendwann einfach davonfahren könne, wenn Mutter mich nerve, und wir lachten beide, ich nervös und er nachdenklich. Und ich bat ihn, mir eine Geschichte aus alf leila wa leila zu erzählen, weil er das so gut konnte und damit er auf andere Gedanken kam, und so erzählte er mir Geschichten aus alf leila wa leila, als Frauen noch Königinnen waren und Ifrite aus Meeren aufstiegen, um Menschen das Leben zu erschweren, und ich lauschte ihm, beobachtete seine Mimik, weil er die Geschichte erzählte, als würde Shahrasad auf seiner Zunge sitzen. Shahrasad durfte nicht aufhören zu erzählen, sonst würde sie sterben. Ich hatte Angst, dass ihr keine Geschichte mehr einfiele. Sie würde vom König getötet werden, sollte sie aufhören zu erzählen: Und Shahrasad erzählte.

Und Mutter fragte mich, was ich auf der Straße beobachtet hätte, als Younes’ Vater ihn absetzte; alle glotzten, und Younes weinte. Ich schwieg, und Mutter schimpfte, warum ich nicht wie die Töchter anderer Frauen sei, die ihren Müttern immer alles erzählten, und ich wollte wissen, woher sie Younes’ Namen kannte. Mutter drängte mich zu erzählen, und ich erzählte ihr davon, wie ich Younes verprügelt hatte, und da wurde sie sauer und befahl mir, aufs Zimmer zu gehen, aber ich ging nach draußen.

Younes’ Vater hatte ihn vor der Haustür abgesetzt, hatte ihn aus seinem Auto gezerrt, und Younes wand sich wie unter Bauchschmerzen, und seine Mutter mit ihrem engen Rock trippelte um Younes herum und versuchte, ihn festzuhalten, weil er dem Auto seines Vaters hinterherrennen wollte, und alle glotzten. Seine Mutter drückte ihn an sich, flüsterte ihm Sachen ins Ohr, die niemand hörte, nur Younes; obwohl alle glotzten, widmete die Mutter sich Younes und schaffte es, ihn zu beruhigen, aber er weinte immer noch, und alle glotzten. Die Mutter lief mit Younes ins Haus und schimpfte mit den Leuten, dass sie aufhören sollten zu starren, habt ihr nie einen heulenden Jungen gesehen, schrie sie, und da hörten einige Leute auf zu glotzen. Die Erwachsenen schauten verschämt in eine andere Richtung, schoben ihre Kinder vor sich her und schauten dann noch einmal, wie das Ganze enden würde.

Von dem Tag an setzte sich Younes nach der Schule immer auf den Bordstein und wartete auf seinen Vater, und am Anfang glotzten alle und erzählten einander, was sie an dem Tag beobachtet hatten, als sie glotzten, und dann erzählten sie einander, was sie gedacht hatten, als sie glotzten, und sie schüttelten den Kopf, als hätten sie Mitleid mit Younes, der auf seinen Vater wartete und alle auf der Straße daran erinnerte, dass er auf seinen Vater wartete. Abends holte ihn seine Mutter rein. Er folgte ihr mit gesenktem Kopf, und die Traurigkeit triefte aus seinen Augen, und sie tropfte auf den Asphalt, pralle Wasserkugeln nässten den Weg vom Bordstein bis zur Haustür.

Auch nach Wochen schien Younes seinen Vater nicht vergessen zu haben, und er setzte sich auf den Bordstein, aber die Leute, die geglotzt hatten, glotzten nicht mehr, weil sie wieder Younes’ Mutter nachglotzten, die kurze und enge Röcke trug. Und er wartete noch länger, und die Erinnerung nahm nicht ab, die Traurigkeit auch nicht und auch nicht, als seine Mutter ihm einen Basketball mitgab, damit er die Zeit vergaß, und Younes nur lustlos im Sitzen dribbelte. Er stand nie auf, als hätte man ihm die Knie gebrochen. Wenn das Gummi des Basketballs den Asphalt traf, hallte es im Viertel, und das Dribbeln begleitete die Nachmittage der Bewohner, und alle wussten, dass Younes draußen saß und wartete. Wenn ein Auto in die Straße einbog, drückte er den Ball an die Brust und schaute auf und immer wieder und nirgendwo sein Vater. Bis die Straßenlaternen automatisch angingen, und Younes blieb auf dem Bordstein sitzen und konzentrierte sich auf das Geräusch, das der Asphalt mit dem Basketball machte. Und irgendwann musste seine Mutter ihn nicht mehr reinholen, er ging freiwillig, weil er wusste, dass er morgen weiter warten konnte. Während Younes wartete, dachten die Jungen im Viertel, man könnte Younes’ Rücken als Tor nutzen, weil er stillsaß und gebrochene Knie hatte, und es ärgerte sie, dass der Hurensohn nicht aufhörte zu warten, sagten sie, und wir sorgen dafür, dass er nicht mehr wartet, sagte einer. Wer traf, bekam einen Punkt, und nicht alle trafen, sie waren sogar ziemlich schlecht, aber Raffiq traf immer Younes’ Rücken, schoss immer mit rasender Härte, und alle hielten für einen Moment den Atem an, hingerissen zwischen Mitleid und Schaulust, warteten darauf, Younes heulend ins Haus rennen zu sehen. Aber Younes bewegte sich nicht, er blieb weiterhin sitzen und atmete schwer und dribbelte und hörte nicht die rasende Wut in Raffiqs Schuss, sondern das stetige Geräusch, dass der Asphalt mit seinem Basketball machte, und es hallte so laut im Viertel, und es hallte so laut in Younes’ Körper, sein gekrümmter Rücken zuckte kurz, aber das Geräusch von Younes’ Basketball war lauter, das Geräusch war im Treppenhaus zu hören und in der Küche und wenn Vater mir eine Geschichte erzählte, und der Basketball war lauter als Shahrasad.

Ich war wütend, nicht auf die Jungen, sondern auf Younes, der ihnen nicht seinen Basketball gegen den Kopf schmetterte oder aufstand und ging. Es ärgerte mich, dass er den Schmerz aushielt, und es ärgerte mich, dass ich mich freute, wenn er getroffen wurde, weil ich dann glaubte, er würde doch aufstehen und das Warten aufgeben. Einmal kam mein Vater früher von der Arbeit und sah, wie die Jungen Younes’ Rücken zum Ziel ihres Spiels gemacht hatten. Er schimpfte mit ihnen und fragte, ob sie sich nicht schämten, einen harmlosen Jungen zu schikanieren, und Raffiq, der immer mit rasender Wut schoss, sagte, Younes spielt mit, Onkel, wir schikanieren ihn nicht, sagte er, gebrauchte ein zu großes Wort für seinen Mund, und der andere Junge, Walid, sagte, Younes sei das Tor, und da brüllte mein Vater, sie sollten sich gefälligst ein anderes Tor suchen. Aber wir hatten kein Tor im Viertel, es wurde immer improvisiert, mit Schulranzen oder Wasserflaschen; es gab einen Spielplatz mit einer einseitig gerissenen Schaukel, weil es im Viertel mehr Kinder als Spielmöglichkeiten gab, und mein Vater wusste das und schimpfte immer darüber, dass die Stadt das Viertel vergessen habe, also schnappte sich Vater den Ball und meinte zu den Jungen, sie sollten ihm folgen. Wir liefen alle meinem Vater hinterher, der auf den großen Marktplatz zusteuerte, wo ein Lidl war, und fragte, ob jemand von den Jungen einen Edding dabeihabe. Sie reichten ihm einen Edding, und mein Vater malte ein großes Rechteck an die Seitenwand des Supermarkts und rief den Jungen zu, hier sei ihr Tor, und die Jungen öffneten die Münder in blödem Staunen, als hätte mein Vater ihnen das Universum gezeigt. Dann fingen sie an zu lachen und meinten, ja, Mann, danke, Onkel, und bevor sie weiterreden konnten, drohte Vater ihnen mit Prügel, wenn sie noch einmal Younes anrührten, und da drehte Raffiq sich zu mir und meinte, Amal, erzähl mal, wie du Younes geschlagen hast, und da schämte ich mich, weil ich meinen Vater blamierte. Mein Vater wendete sich mir erschrocken zu und fragte, ob ich bei ihrem dummen Spiel mitgemacht hätte, und da konnte ich ihn beruhigen. Ich glaubte zu wissen, warum ich Younes nicht mehr verprügeln durfte, damit Vater ihn zukünftig vor anderen beschützen konnte, ohne sich Vorwürfe anhören zu müssen. Auf dem Nachhauseweg erzählte mir Vater, warum Younes dasaß, als wüsste ich das nicht.

Keiner möchte gegen Younes kämpfen. Eigentlich: Keiner könnte gegen Younes kämpfen; sie lauern, streunen um ihn herum, und er steht da und ist groß und mächtig und unberührt, und sie flüstern einander ins Ohr, und im nächsten Moment lachen sie laut auf und kreischen ein unverständliches Wort, sodass ich ihnen gerne meine Faust in den Mund rammen würde, aber ich darf nur auf der Bank sitzen, als Einzige, ich bin ein Mädchen. Es gibt sonst keine Zuschauer, weil es langweilig ist: Und niemand traut sich, mit Younes in den Ring zu steigen. Ich begleite Younes nur, der unbedingt bei der Box-AG mitkämpfen möchte und Angst verbreitet und mich zum Beobachten zwingt, weil ich nicht hier sein darf, denn die Box-AG ist nur für Jungen, sagt der Lehramtsstudent. Younes meinte, ich müsse ihn nicht begleiten, und ich habe ihm nicht gesagt, dass ich Raffiqs Gruppe nicht vertraue, und ich musste das nicht sagen, weil wir uns an das Dribbeln des Basketballs erinnerten. Sie sind hinterhältige Feiglinge, das wissen wir beide, sie sind wie fünf Finger, die nur als Faust stark sind, ansonsten leicht zu brechen. Ich genieße es, wie die Unsicherheit sie umgibt. Wie kleine Hügel sehen sie mit Younes in ihrer Mitte aus. Und Younes verwandelt sie in die Jungen aus der fünften Klasse, die an ihm zerrten: Von hinten kamen sie, immer von hinten die Hände an Younes Rücken, bis ich lernte, was es heißt, jemandem den Rücken freizuhalten, und ich hatte nicht die Muskelkraft, also biss ich zu, und sie zogen an meinem lang gewordenen Haar.

(Ausschnitt aus: Karosh Taha: Im Bauch der Königin. Dumont (2020).


Karosh Taha
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